Seit Oktober 2022 wurde das rechtswissenschaftliche Studium an der Universität Graz auf den Kopf gestellt und ein von Grund auf neues Curriculum in Kraft gesetzt. Grund genug, um Lehrende vor den Vorhang zu holen, die uns aus erster Hand von den tiefgreifenden Änderungen erzählen können, die diese Umstellung mit sich brachte. Wo Prof. Heidelinde Luef- Kölbl und Dr. Sebastian Gölly vom Institut für Strafrecht sowie Prof. Paul Gragl vom Institut Europarecht die größten Vorteile für Studierende im neuen Studienplan sehen, welche neuen Herausforderungen auf diese zukommen können, wann Studienliteratur eine Hilferstellung für Studierende darstellt und wie sich das Erarbeiten von Stoffgebieten bzw der Lernprozess – Stichwort ChatGPT – verändern wird, erzählen sie uns in einem Interview.
Wo sehen Sie die größten Vorteile für Student:innen im neuen Studienplan, welche neuen Herausforderungen werden auf sie zukommen?
Gragl: Die größten Vorteile ergeben sich sicher aus der Modularisierung des neuen Studienplans. Dadurch haben die Studierenden nun zwar mehr, aber dafür kleinere Prüfungen mit weniger Stoffumfang pro Termin. Der Stoff muss also nicht mehr wie bei den vormals großen Fachprüfungen auf einmal reproduziert werden. Didaktisch und in Sachen Stoffverfestigung ist das sicherlich der bessere Zugang. Gleichzeitig ergibt sich aus dieser Modularisierung auch die Herausforderung, dass die Studierenden den Stoff tatsächlich behalten und die kleineren Mengen nicht nur in Schrebergartenmanier auswendig lernen, sondern auch miteinander vernetzen können.
Gölly/Luef-Kölbl: Ein großer Vorteil ergibt sich sicherlich auch daraus, dass sich der Prüfungsstoff für die Erstsemestrigen insgesamt wohl verringert hat und die ehemalige große Prüfung am Beginn des Studiums, die eine neunstündige Vorlesung zum Öffentlichen Recht, Zivilrecht und Strafrecht umfasste, nunmehr auf drei einzelne – und kleinere – Lehrveranstaltungen aufgeteilt wurde. So können sich die Studierenden auf jede einzelne Rechtsmaterie konzentrieren und sind flexibler in ihrer Lern- und Prüfungsplanung. Positiv ist sicher auch die Reduktion der Gruppengrößen in einzelnen Lehrveranstaltungstypen, wodurch ein besseres Betreuungsverhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden erreicht wird. Vielversprechend erscheinen außerdem auch die vielfältigen neuen Spezialisierungsmöglichkeiten im weiteren Verlauf des Studiums, durch welche die Studierenden – je nach ihren Interessen, künftigen (Wunsch‑)Betätigungsfeldern und Begabungen – gezielt Schwerpunkte für ihre berufliche Zukunft setzen können.
Was muss Studienliteratur aus Ihrer Sicht heute erfüllen, um den Student:innen eine wirkliche Hilfestellung zu sein?
Gragl: Das ist eine perfekte Überleitung: Studienliteratur muss Verständnis vermitteln, die innere Logik und Systematik des Fachs, und nicht nur Rohinformationen bereitstellen. Freilich muss man im Jus-Studium auch viele Dinge auswendig lernen, aber am Ende müssen die Studierenden den Stoff auch verstehen und das „große Ganze“ sehen, das alle juristischen Fächer miteinander verbindet.
Gölly/Luef-Kölbl: Da können wir uns nur anschließen: Um eine Rechtsmaterie wirklich erfassen zu können, muss man sie verstanden und das dahinterliegende System begriffen haben. Dann muss man auch viele weniger „auswendig“ lernen. Studienliteratur muss aus unserer Sicht das leisten – idealerweise verbunden mit einem übersichtlichen Aufbau, der ein schnelles und gezieltes Nachlesen ermöglicht und auch die wesentlichen (weiterführenden) Informationen enthält. Dabei lassen sich Verständnis und Systematik wohl besonders gut anhand von Beispielen lehren und lernen.
Stichwort neue Studienliteratur: Ihnen ist gemeinsam, dass Sie die Studienänderungen zum Anlass genommen haben, um ein neues Lehrbuch bzw Skriptum zu veröffentlichen. Frau Prof. Luef-Kölbl und Herr Dr. Gölly, Sie beide haben das neue Lehrbuch „Basiswissen Strafrecht und Strafprozessrecht“ geschrieben. Herr Prof. Gragl, Sie haben das Skriptum „Internationale Dimensionen des Rechts und Rechtsvergleichung“ mitverfasst und koordiniert. Was war die Motivation bzw der Anstoß, diese Werke zu publizieren?
Gragl: Motivation und Anstoß waren, die Dimensionen eines Rechtsbereiches zu vermitteln, welcher den Studierenden wohl immer mehr Schwierigkeiten bereitet als das nationale Recht. Internationales Recht in all seinen Facetten – also vor allem Völkerrecht und Europarecht – sind anders strukturiert, werden anders erzeugt, und müssen zudem noch die Schwelle des staatlichen Rechts überwinden, um Wirkung zeigen zu können. Das alles wollen wir mit dieser grundlegenden Einführung anschaulich erklären und darstellen.
Gölly/Luef-Kölbl: Wir wollten mit unserem Lehrbuch eine Möglichkeit schaffen, ein grundlegendes Verständnis des Strafrechts und des Strafprozessrechts zu erwerben und deren grundlegende Systematik zu begreifen. Das Strafrecht ist in aller Munde und ein in den Medien besonders präsenter Rechtsbereich. Manches dort Beschriebene kann aber unverständlich erscheinen, wenn einem die Grund- und Wesenszüge des Strafrechts fremd sind. Mit dem Lehrbuch soll diese Basis gut nachvollzogen werden können – und für Studierende so die Grundlage für eine spätere, detailliertere Auseinandersetzung mit dem Strafrecht geschaffen werden. Besonders freut es uns, dass unseren Studierenden mit diesem Werk nun erstmalig auch ein auf alle Bereiche der Einführungsvorlesung zum Strafrecht und Strafprozessrecht zugeschnittenes Lehrbuch zur Verfügung steht.
Worauf haben Sie besonderen Wert gelegt, welche inhaltlichen Schwerpunkte wollten Sie setzen?
Gragl: Besonderen Wert haben wir in unserem Skriptum auf graphische Darstellungen gelegt, welche das oftmals komplizierte Verhältnis von internationalem und nationalem Recht für die Studierenden verständlich visualisieren sollen. Außerdem haben wir Infoboxen und Kontrollfragen inkludiert, damit die Studierenden den Stoff selbständig durchgehen und damit festigen können.
Gölly/Luef-Kölbl: Die oberste Prämisse für uns war die Orientierung des gesamten Lehrbuchs daran, verständnisorientiert in das Strafrecht und das Strafprozessrecht einzuführen. Zur Umsetzung unseres didaktischen Konzepts haben wir auf zahlreiche Grafiken und Übersichten zurückgegriffen, vor allem aber die theoretischen Inhalte mit unzähligen (Fall-)Beispielen ergänzt und illustriert. Wir sind überzeugt, dass man anhand von Beispielen am besten und nachhaltigsten lernt, weil diese gleich als kurze Wiederholung und Kontrolle dienen, ob man die Theorie richtig verstanden hat, und so auch alles viel besser in Erinnerung bleibt.
Wagen wir noch einen Blick in die (nahe) Zukunft: Was glauben Sie, wie wird sich das Erarbeiten von Stoffgebieten bzw der Lernprozess verändern – Stichwort ChatGPT?
Gragl: Das Internet bietet im Bereich des Erarbeitens von Stoffgebieten und beim Lernprozess selbst immense Vorteile, weil es in Sachen Informationsgehalt die bestehenden Lehrbücher immer ergänzt. Ob ChatGPT beim Lernen selbst helfen kann, traue ich mich nicht zu sagen, vorstellbar ist es aber schon. Ich habe selbst einmal ChatGPT gefragt, mir das Völkerrecht bzw das EU-Recht zu erklären, als ob ich ein Kind wäre. Die Antworten waren faktisch richtig und oberflächlich hilfreich, für die Prüfungsvorbereitung war es jedenfalls aber zu wenig.
Gölly/Luef-Kölbl: Das sehen wir ähnlich: Neue Technologien und Medien verändern das Lernen und Arbeiten. Künstliche Intelligenz bietet sicher ein großes Potential, auch das juristische Wirken künftig einmal zu verändern. Statt Detailwissen, wie aktuell üblich, immer wieder in Büchern, Datenbanken oder Judikaten zu lernen, zu recherchieren und nachzulesen, wird man alternativ vielleicht schon bald vermehrt Fragen an KI-Systeme stellen können. Damit wird es aber wohl nur noch wichtiger, selbst über ein fundiertes Verständnis von den betreffenden Rechtsmaterien zu verfügen, um die Ergebnisse von ChatGPT und Co. auf ihre Richtigkeit und Plausibilität prüfen zu können; und ein solches Verständnis kann auch keine KI ersetzen, das müssen wir uns selbst erwerben. Regelmäßig sind mit juristischen Einschätzungen und Entscheidungen schließlich gravierende Auswirkungen auf menschliche Schicksale verbunden – im Bereich des Strafrechts etwa darüber, ob eine Person für viele Jahre oder sogar Jahrzehnte ihre Freiheit verliert. Diese Verantwortung nimmt uns in die Pflicht, uns nicht unreflektiert auf von einer KI erstellte Antwort zu verlassen. Und ganz auf das Studium bezogen: Spätestens bei den Prüfungen müssen die Studierenden ja ohnehin immer noch selbst antworten…
Herzlichen Dank für das Gespräch.
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