Ein Interview mit den Herausgebern des neuen Kommentars zum AVG
Dr. Dieter Altenburger, MSc ist Rechtsanwalt und Partner der Jarolim Partner Rechtsanwälte GmbH und Spezialist im Bereich öffentliches Umweltrecht. Dr. Wolfgang Wessely ist Richter am LVwG NÖ und Leiter der LVwG-Außenstelle Mistelbach. Die Herausgeber des neuen Kommentars zum Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) im Interview mit LexisNexis über typische Fehler bei verwaltungsbehördlichen Verfahren, Veränderungen der Verfahrensabläufe seit den letzten beiden Jahren und über einen erfolgreichen Einstieg in die komplexe Materie.
In Kürze erscheint der neue AVG Kommentar. Wie kam es zu diesem großen neuen Projekt?
Dieter Altenburger: Trotz der hohen Bedeutung des AVG in der Praxis ist die auf aktuellem Stand befindliche, kommentarmäßige Aufbereitung dieser Materie überschaubar. Neben dem großen Kommentar von Hengstschläger/Leeb bestand mehr als ein Jahrzehnt kein weiteres Werk. Insofern lag es aus unserer Sicht nahe, hier für eine gewisse Vielfalt zu sorgen und unseren Kommentar stark an die Anforderungen bzw Fragestellungen aus der Praxis zu orientieren.
Was zeichnet den neuen Kommentar besonders aus?
Dieter Altenburger: Der neue Kommentar zeichnet sich vor allem durch seine hohe Praxisorientierung aus. Das Autorenteam, das sich aus der Wissenschaft, der Anwaltei, der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit zusammensetzt, liefert dabei Antworten auf alle relevanten Fragen und bedient sich dabei eines klaren und verständlichen Aufbaus, der sich chronologisch an den Tatbestandselementen des Gesetzestextes orientiert.
Haben Sie einen Tipp aus richterlicher/anwaltlicher Perspektive zur Herangehensweise an ein verwaltungsbehördliches Verfahren erster Instanz?
Dieter Altenburger: Das behördliche Verfahren ist deutlich weniger formalistisch als das zivilrechtliche. Dies öffnet auf Seiten der Behörde einen recht weiten Handlungsspielraum, vor allem durch den Grundsatz der arbiträren Ordnung, bedeutet aber für rechtsberatende Berufe, dass der Gang des konkreten Verfahrens schlechter vorhersehbar ist. Wichtig ist es daher, sich über die Vollzugspraxis der konkret zuständigen Behörde bzw des Organwalters zu informieren.
Wolfgang Wessely: Aus der Perspektive der Behörde sind es wiederum die weitgehende Formfreiheit prozessualer Handlungen, vor allem aber die mannigfaltigen Dispositionsmöglichkeiten der Beteiligten, die den Verfahrensgang und die Verfahrensdauer bisweilen nur schwer vorhersehbar machen. Hier gilt es besonders darauf zu achten, den „roten Faden“ durch das Verfahren nicht zu verlieren und sich nicht in außerrechtlichen Bereichen zu verzetteln, denen in der Sache keine Bedeutung zukommt.
Gibt es typische Fehler, die Sie schon beobachtet haben?
Dieter Altenburger: Während das Zivilverfahren durch die Dispositionsmaxime geprägt ist, ist es im Verwaltungsverfahren die Offizialmaxime. Häufig passieren Fehler, weil sich Parteien zu sehr darauf verlassen, dass „alles von Amts wegen erfolge“. So unterlaufen bei der Fristberechnung, bei der Erhebung von Einwendungen, bei der Unterfertigung der Verhandlungsniederschrift etc regelmäßig vermeidbare Fehler, die zudem oft auch nicht sanierbar sind.
Wolfgang Wessely: Das deckt sich durchaus mit meinen Wahrnehmungen: meines Erachtens verleitet die Formfreiheit und „Benutzerfreundlichkeit“ des Gesetzes sowohl auf Seiten der Behörden als auch der Beteiligten bisweilen dazu, verfahrensrechtliche Anordnungen nicht zu ernst zu nehmen. Derartige Ungenauigkeiten (etwa bei Verhandlungskundmachungen) können aber weitreichende und in weiterer Folge (uU auch Jahrzehnte später) kaum mehr lösbare Folgeprobleme (Stichwort: übergangene Partei) nach sich ziehen.
Wie sehr haben die letzten beiden (Covid-)Jahre den Verfahrensablauf geprägt und eventuell auch nachhaltig (zum Besseren/Schlechteren) verändert?
Dieter Altenburger: In der Verwaltung und auch Rechtsberatung hat die Pandemie zu einem Technologieschub geführt. Audiovisuelle Verhandlungen, die schon lange von vielen Praktiker:innen gefordert wurden, kurz vor der Pandemie auch eingeführt wurden, allerdings nur im Bereich des VStG und VwGVG, waren plötzlich problemlos möglich. Das Problem dabei ist, dass diese Verhandlungen unter Verwendung geeigneter technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung mit dem Verwaltungsrechtlichen COVID-19-Begleitgesetz – COVID-19-VwBG – zwar allgemein in die Rechtsordnung Eingang gefunden haben, aber mit einem Ablaufdatum versehen sind.
Wolfgang Wessely: Die Möglichkeit der elektronischen Kommunikation mit der Behörde ist bei den Bürger:innen angekommen. Vernehmungen mit geeigneten technischen Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung stehen mittlerweile an der Tagesordnung, ersparen Zeit und Geld, erhöhen die Flexibilität in der Verfahrensführung und sind wohl gekommen, um zu bleiben.
Sie sind nicht nur Herausgeber von fundierten Kommentaren, sondern auch Autoren von Studienliteratur – einer ganz anderen Publikationsform. Wie gelingt der erfolgreiche Einstieg in eine komplexe Materie aus Ihrer Sicht am besten?
Dieter Altenburger: Aus meiner Sicht ist es hilfreich, sich einen Überblick über die Materie zu verschaffen, wie zB mit Skripten oder Kurzlehrbüchern. Danach sollte man sich mit einem Standard-Lehrbuch beschäftigen und zuletzt das Erlernte mit Falllösungsbüchern kontrollieren und vertiefen.
Wolfgang Wessely: …das alles freilich immer mit einem parallelen Blick ins Gesetz.
Was haben Sie aus Ihrem Studium besonders in Ihre Praxis mitgenommen?
Dieter Altenburger: Das Studium ist schon gefühlt eine Ewigkeit her. Da ich Raschauer sen. und Thienel als Professoren hatte (mündlich/schriftlich), lernte ich schon während der Prüfungsvorbereitung das Verwaltungsrecht aus zwei unterschiedlichen Perspektiven kennen. Raschauer legte den Schwerpunkt auf das Allgemeine Verwaltungsrecht, Thienel auf das Verwaltungsverfahrensrecht. Gerade die überschneidenden Ausführungen der beiden – jeweils aus ihrem Blickwinkel – sind mir in Erinnerung geblieben und waren in der Praxis hilfreich. Der Spruch als normative Anordnung, die Rolle der Parteistellung und der subjektiven Rechte und das Ermessen, das nicht grenzenlos, sondern gebunden ist.
Wolfgang Wessely: Für mich war es das Wissen, dass Verwaltungsrecht – hier insbesondere das „Besondere“ – trotz seiner erheblichen Weite und der Verschiedenartigkeit der zu regelnden Sachverhalte doch nach bestimmten (mehr oder minder stringenten) Regeln abläuft, also das „unbekannte Gesetz“ gar nicht so unbekannt ist. Unabhängig davon, ob man sich Bundes- oder Landesgesetzen gegenübersieht. Vor allem aber war es die Erkenntnis, dass „ähnlich“ nicht „gleich“ ist und es (auch rechtlich) nahezu nichts gibt, was es nicht gibt. Dass die Praxis das nochmals toppt, gestehe ich aber zu.
Danke für das Gespräch!